Wie stehen Effectuation und Nachhaltigkeit zueinander? Diese Frage beschäftigt mich seit einiger Zeit. Sind sie zwangsläufig miteinander verbunden? Kann Effectuation eine Antwort auf die großen Fragen rund um Klimawandel und Biodiversitätskrise sein? Oder hindert sie Gründerinnen am Ende sogar daran, wirklich nachhaltig zu handeln? Diesen Fragen gehen wir in diesem Artikel auf den Grund.
Mittelorientiert oder Mittellos?
Effectuation ist eine von Saras D. Sarasvathy entwickelte Methode, die Prinzipien entrepreneurialen Handelns definiert. Insgesamt werden vier Prinzipien beschrieben:
Das Prinzip der Mittelorientierung besagt, dass unternehmerisches Handeln sich an den vorhandenen Ressourcen und Mitteln orientiert. Klingt erstmal simpel, oder? Trotzdem steht dieses Prinzip den meisten Handlungsprozessen in etablierten Unternehmen entgegen. In der Regel richtet sich managementorientiertes Handeln an quartalsweise festgesetzten Zielen aus, auf denen basierend die benötigten Ressourcen besorgt werden. Effectuation dreht also den unternehmerischen Spieß um.
Das zweite Prinzip ist das des leistbaren Verlustes. Neben der Orientierung nach den vorhandenen Ressourcen soll sich die Entrepreneurin ebenfalls daran orientieren, was sie maximal bereit ist zu riskieren. Wie viel Geld und Zeit also in das Unternehmen gesteckt werden soll. Auch hier dreht Effectuation das etablierte unternehmerische Spiel um: Statt sich große Ziele zu setzten und dann zu überlegen, wie man an Geld und Ressourcen kommt, orientieren sich die Ziele hier an dem, was man bereit ist zu geben.
Klar soweit? Dann auf zum dritten Prinzip: dem Zufall (mein persönliches Lieblingsprinzip). Dieses Prinzip besagt, dass Unvorhersehbares immer passieren wird – ob wir es nun wollen oder nicht. Darum macht es keinen Sinn zu versuchen, sich vor diesen Zufällen abzuschotten und viel Geld in Risikomanagement zu investieren, wenn nachher doch die nächste große Überraschung um die Ecke kommt. Gerade die aktuelle Zeit der Coronapandemie und noch aktueller der Angriffskrieg in der Ukraine verdeutlichen die Relevanz und Aktualität dieses Prinzips. Das Prinzip des Zufalls erinnert mich immer an den Satz, den Mathew McConaughey’s Charakter in Interstellar zu seiner Tochert?? sagt: „Anything that can happen, will happen my dear.“
Und damit sind wir beim letzten Prinzip, dem Prinzip der Partnerschaften. Dies besagt, dass Entrepreneure, statt auf die „richtigen“ Partnerinnen zu warten und damit andere Personen auszuschließen, mit jenen arbeiten, die sich einbringen wollen und die bereit sind die unsichere Unternehmung mitzugestalten.
Zwei Seiten einer Münze
Damit haben wir die erste Hälfte des Konzepts erklärt. Denn Effectuation erklärt sich vor allem über die Abgrenzung zu Causation. Causation bzw. kausale Handlungsprinzipien entsprechen vereinfacht gesagt dem weitverbreiteten Managementprinzipien von predict and control. Statt von einer Mittelorientierung, geht man von einer Zielorientierung aus. Statt auf Zufälle zu warten, wird alles versucht, um Unvorhergesehenes zu verhindern. Als Saras D. Sarasvathy ihre effectuale Theorie entwickelte, beschrieb sie Causation und Effectuation deshalb als zwei Seiten einer Münze.
- Kausale Denkweisen sind immer dann hilfreich, wenn sich der Unternehmer in einer sicheren Umwelt bewegt, in der Ziele basierend auf Vorhersagen und Prognosen formuliert und umgesetzt werden können.
- Effectuale Denkweisen helfen Unternehmerinnen in von Unsicherheit und Unplanbarkeit geprägten Umwelten weiter.
Diese Differenzierung ist für eine richtige Anwendung der Prinzipien entscheidend. Häufig beobachtet man bei etablierten Unternehmen einen deutlichen Überhang an kausalen Denkmustern und gegensätzlich bei Start-Ups und Jungunternehmern eine Abscheu vor genau diesen Denkstrukturen. Um langfristig erfolgreich zu sein, ist eine bewusste und sinnhafte Auswahl der richtigen Prinzipien analog zur Art der Umwelt, in der man sich bewegt, entscheidend.
Wie hängen effectuale und kausale Prinzipien mit nachhaltigem Wirtschaften zusammen?
Um der Antwort auf diese Frage nachgehen zu können, müssen wir
- uns zunächst überlegen, wie sich zentrale Prinzipien auf die Entstehung und Etablierung eines sustainable Businesses auswirken,
- einen Blick auf die Umwelten werfen, in denen nachhaltig handelnde Unternehmen agieren,
- uns entscheiden, ob kausale oder effectuale Prinzipien sich besser eignen, in diesen Umwelten zu navigieren.
Mittelorientierung vs. Zielorientierung
Das erste effectuale Prinzip besagt, dass die Ziele der Unternehmung stets basierend auf den vorhandenen Ressourcen formuliert werden. Im Kontext eines nachhaltig agierenden Unternehmens bedeutet dies, dass der nachhaltige Fokus nicht festgeschrieben und sicher gegeben ist. Ändern sich nämlich die verfügbaren Ressourcen so weit, dass die nachhaltige Ausrichtung nicht mehr sinnvoll oder möglich erscheint, wird nicht nach neuen Ressourcen gesucht, sondern die Ausrichtung des Unternehmens wird so angepasst, dass die vorhandenen Ressourcen bestmöglich genutzt werden.
Beim Verfolgen von kausalen Prinzipien besteht dieses Risiko nicht. Das Ziel steht hier immer an oberster Stelle, alle anderen Unternehmenselemente werden an den formulierten Zielen ausgerichtet.
Partnerschaften bremsen?
Auch das vierte effectuale Prinzip wirkt auf den ersten Blick so, als könnte es ein sustainable Business ausbremsen. Investoren, die nur Interesse an der Idee, dem Unternehmen oder einem Imageboost für die eigene Marke haben und deshalb in ein sustainable Business investieren wollen, halte ich laut effectualen Denken nicht prinzipiell von einem Investment ab. Eine Übernahme inklusive einer anschließenden Abkehr von nachhaltigem Denken, bis hin zum Greenwashing erscheint möglich.
Zunächst wirkt es deshalb so, als ob effectuale Prinzipen nachhaltige Geschäftsmodelle bremsen und von ihrem eigentlichen Purpose entfernen könnten. Doch hält diese Überlegung auch einem genaueren Hinsehen stand?
Der effectuale Gegenspieler
2021 erschien ein Paper im Wiley Verlag, dass genau diese Zusammenhänge empirisch untersuchte. Die Forscher sind zunächst von den Prämissen ausgegangen, die ich gerade beschrieben habe.
Danach sprachen sie mit unterschiedlichen Gründerinnen, die ein sustainable Business aufgebaut haben. Dabei fanden sie überraschenderweise heraus, dass sowohl kausale, als auch effectuale Handlungsstrategien den Fokus auf ein nachhaltiges Wirtschaften erhöhen. Noch interessanter: Der fehlenden Handlungsorientierung und möglicherweise dubiosen Partnern zum Trotz ist der Effekt bei effectualen Handlungsstrategien sogar stärker als bei ihren kausalen Gegenspielern.
Woran kann das liegen? Für mich liegt die Antwort in einem wunderschönen Bild das Frederic Laloux in seinem Buch „Reinventing Organizations“ zeichnet. Er beschreibt den Unterschied zwischen dem Versuch strikter Vorhersagen und Planung in einem zielorientierten Denken und dem de „sich treiben lassen“ im täglichen Strom der sich verändernden Umstände, in der Gewissheit des langfristigen Purposes:
Die herkömmliche Praxis in Organisationen ist die, dass man fünf Jahre in die Zukunft schaut und Pläne für das nächste Jahr macht. Bei FAVI ist man der Ansicht, wir sollten eher wie Bauern denken: 20 Jahre in die Zukunft schauen und nur für den nächsten Tag planen. Man muss lange vorausdenken, um zu entscheiden, welche Obstbäume man pflanzt oder welche Nutzpflanzen man anbaut. Aber es ist nicht sinnvoll, zu Beginn des Jahres das genaue Datum der Ernte zu bestimmen. So sehr wir es auch versuchen, wir können das Wetter, die Pflanzen und die Erde nicht kontrollieren – sie haben ein Eigenleben, das sich unserer Kontrolle entzieht. Ein Bauer, der sich fest an einen Zeitplan halten würde, statt zu spüren und sich der Wirklichkeit anzupassen, würde bald keine Ernte mehr einfahren.
Aus: Reinventing Organizations von Frederic Laloux
Das Beispiel des Bauern beschreibt für mich sehr eindrücklich, wieso die Frage nach der Mittel- oder Zielorientierung überhaupt nichts mit dem nachhaltigen Purpose eines Unternehmens zu tun hat. Dieser wird auf einer ganz anderen Ebene verhandelt.
Der Purpose oder auch die Seele der Unternehmung entstammt den professionellen Überzeugungen und persönlichen Werten seiner Mitarbeitenden, Eigentümer und aller Stakeholderinnen. Der Purpose wird durch Quartals- oder Jahreszielvorgaben nicht tangiert. Er kann sich nur dann nachhaltig verändern und von seinem Ursprung abkehren, wenn sich die Werte und Überzeugungen einer Mehrzahl der Mitarbeitenden, Eigentümerinnen und Stakeholder grundlegend verändern.
Die Flexibilität innerhalb des durch den Purpose vorgegebenen Korridors, Ziele an die vorhandenen Ressourcen anpassen zu können, macht es den Entrepreneuren sogar leichter sich eng am Purpose zu orientieren. Stellt sich nach einiger Zeit heraus, dass eine Möglichkeit doch attraktiv ist oder keinen großen Impact entfaltet, findet direkt eine Umorientierung statt, mit Hilfe derer die vorhandenen Ressourcen effektiver für das große Ganze eingesetzt werden können.
Nachhaltige Geschäftsmodelle und ihre Umwelten
Nachdem wir uns intensiv mit der Beziehung der effectualen Prinzipien zur Nachhaltigkeit beschäftigt haben, geht es nun um die Umwelten, denen ein sustainable Business ausgesetzt ist.
Die Welt, der ein sustainable Business ausgesetzt ist, ist grundsätzlich eine komplexe. Das liegt daran, dass parallel zu den betriebswirtschaftlichen Aufgaben, wie zum Beispiel der Kapitalvermehrung und Gewinnmaximierung, weitere zentrale Aufgaben als Purpose definiert wurden. Ich denke hier zum Beispiel an die Minimierung der durch das Unternehmen emittierten CO2-Emissionen oder an den Aufbau einer möglichst fair funktionierenden Lieferkette.
Zusätzlich wird neben den Geschäften mit Kunden und Lieferanten häufig noch mit verschiedenen NGOs oder staatlichen Institutionen zusammengearbeitet. All das erhöht die Komplexität, der ein sustainable Business gerecht werden muss.
Chaos im Spaghettitopf
Das Paradigma vom Vorhersagen und Kontrollieren führt uns natürlicherweise dazu, dass wir die perfekten Antworten suchen. Wenn die Zukunft vorhergesagt werden kann, dann ist es unsere Aufgabe, die Lösungen zu finden, die uns die besten Ergebnisse in der vorhersehbaren Zukunft bringen. In einer komplizierten Welt sind Vorhersagen wertvoll, aber in einer komplexen Welt verlieren sie jede Relevanz. […] Ein Flugzeug wie eine Boeing 747 ist ein kompliziertes System. Es gibt Millionen von Teilen, die nahtlos zusammenarbeiten müssen. Aber alles kann kartographiert werden. Wenn man ein Teil verändert, sollte man alle Konsequenzen vorhersagen können. Ein Kochtopf mit Spaghetti ist ein komplexes System. Es hat zwar nur einige Dutzend „Teile“, aber es ist so gut wie unmöglich vorherzusagen, was geschehen wird, wenn man an einem Ende der Spaghetti zieht, die aus dem Topf ragt.
Aus „Reinventing Organizations“ S. 212 von Frederic Laloux
Im beschriebenen Spaghetti Kochtopf sind nachhaltig agierende Entrepreneurinnen ihr Leben lang unterwegs. Und aus genau diesem Grund schlagen sich effectuale Prinzipien in diesen Umgebungen besser als kausale. Statt zu versuchen vorherzusagen, wann welche Spaghetti wo sein könnte, akzeptiert eine mit effectualen Mustern arbeitende Entrepreneurin die Unmöglichkeit dieses Versuches und konzentriert sich stattdessen darauf, die Zukunft in dem Rahmen aktiv zu gestalten, in dem sie kontrolliert werden kann.
Be like water in a river
Damit ist die Frage der Beziehung von Nachhaltigkeit und Effectuation gut beantwortet: Die beiden haben sehr viel miteinander zu tun!
Auch wenn es im ersten Moment so wirkt, als ob effectuale Denkmuster einen langfristigen Fokus auf Nachhaltigkeit ausbremsen könnten, ist schlussendlich das Gegenteil der Fall: Effectuation hilft sustainable Entrepreneuren, innerhalb des durch den Purpose vorgegebenen Korridors so fluide, flexibel und agil zu bleiben wie das Wasser eines Flusses innerhalb seines Bettes. Diese Fluidität hilft den Unternehmerinnen loszulassen und sich einzugestehen: Die wilden Wellen des Flusses kann ich nicht kontrollieren. Wenn ich sicher ankommen möchte, muss ich mich dem Fluss hingeben und mich durch ihn zum Ziel treiben lassen. Der Purpose ist in dieser Metapher dann das Ufer, welches die Grenzen dessen markiert, wohin das Wasser strömt, und die Entrepreneurin ist dann wie Bruce Lee es formulierte das Wasser.